True Story Kevin

Ich kann mich erinnern, dass ich bereits als kleines Kind in einer Tagesstätte untergebracht war. Ich hatte einen guten Draht zur Chefin dort und fühlte mich wohl. Ich habe dort viel gelernt und gespielt und sie haben früh gemerkt, dass ich hyperaktiv bin und haben mir spezifische Aufgaben gegeben.

Im Alter von sieben Jahren kam ich ins Heim. Es ging alles sehr schnell- wir haben zwei Orte angesehen und im einen Heim ging ich schnuppern und durfte dort bleiben. Dass ich ins Heim kam, verstand ich damals nicht so ganz- Ich kann mich an die Gewalt zu Hause erinnern und an meiner Mutter, die Alkohol getrunken hat. Es führten viele Faktoren dazu, die mir heute noch nicht ganz bewusst sind oder ich nicht genau weiss, wie ich sie einordnen soll. Es heisst auch, dass die Gemeinde sich eingemischt habe. Aber egal warum ich ins Heim kam, es ist so und bleibt Teil meines Lebens.

Dass ich ins Heim kam, wollte meine Mutter eigentlich nicht- ich sah an ihren Blicken, dass sie das nicht mochte. Es war trotzdem die richtige Lösung, um meine Mutter zu schützen und meinen Vater zu entlasten, das habe ich für mich so später interpretiert, als Siebenjähriger habe ich das ja so noch nicht analysieren können.

Ich selber durfte viele Dinge im Heim erleben, ich hatte gute und schlechte Zeiten. Ich habe versucht, das Beste darauf zu machen, obwohl ich manchmal rebellisch war- im Heim wird man sehr schnell unter Kontrolle gebracht. Ich versuchte das Positive daran zu sehen. Ich bin unterstützt worden auch wenn ich mich an Dinge erinnere, die für mich falsch liefen. Ich konnte diese auch gemeinsam mit der pädagogischen Leitung besprechen, Dinge die aus heutiger Sicht nicht gut liefen, das war für mich sehr hilfreich.

Ich bin Sternzeichen Widder und wollte manchmal auch mit dem Kopf durch die Wand und habe damit mein Umfeld herausgefordert. Ich habe einen starken Willen und ich kann mich an einige Situationen erinnern, an denen ich dachte «jetzt habe ich gegen den Sozialpädagogen verloren». Im Heim sind viele Dinge vorgegeben – man hat sehr viel vorgeschrieben bekommen und ich war froh, konnte ich ins FC Training

«Wer hochfliegt, fällt auch tief»- diese Aussage blieb mir am Meisten im Kopf, und da sind auch noch ein paar Aussagen einer Lehrperson geblieben, die Moralpredigten (lacht). In den Jahren gab es so viele Dinge, es ist so ein grosses Thema, wenn man drin war- wir haben im Heim so verschiedene Menschen kennengelernt.

Ein sehr prägendes Erlebnis war für mich, als mir mitgeteilt wurde, dass meine Mutter sich das Leben genommen hat- das war sehr schmerzhaft. Innerlich hat sich mit diesem Erlebnis so vieles verändert: Ich begann an mir zu arbeiten zu «pickeln» und es wurde mir bewusst, dass die Zeit, die man in seinem Leben hat, sehr schnell vorüber sein kann. Zudem wollte ich auch aus dieser Situation herauskommen und etwas Gutes aus meinem Leben machen.

Mit dem Wechsel auf die Wohngruppe für Jugendliche haben sich mir auch neue Türen geöffnet- mehr selber entscheiden dürfen. Das hat mir geholfen, nochmal mehr Gas zu

geben, so dass ich innerhalb von kurzer Zeit auf die Progressionsgruppe kam und noch selbständiger werden durfte.

Für den Beginn meiner Lehre habe ich dann die Institution gewechselt- ich habe mich nochmal auf eine neue Wohngruppe eingelassen. Mit Corona wurden die Möglichkeiten dort auf der Wohngruppe so eingeschränkt, dass ich mich begann dagegen zur Wehr zu setzen. Dieser enge Rahmen hat mich an die vergangenen 10 Jahre im Heim erinnert und auch daran, dass ich auf keinen Fall in eine solche Struktur zurückwollte. Ich habe ja quasi meine ganze Kindheit im Heim verbracht.

Glücklicherweise konnte ich mein Anliegen gegenüber den Betreuenden formulieren, jedoch waren die Personen, um ich herum wohl doch etwas schockiert, dass ich eine so klare und eigene Meinung habe. Danach war ich noch etwas ein halbes Jahr dort, dank Corona mehr zu Hause als auf der Wohngruppe bis ich dann endgültig zu meinem Vater gezogen bin und das tägliche Pendeln zur Arbeitsstelle auf mich genommen habe.

Während der Lehrzeit hat mich mein Betreib sehr unterstützt, ansonsten habe ich für mich selber geschaut. Es war ein grosser Schritt in die Selbständigkeit- ich merkte schon, dass ich zwar einiges schon kann und schon vorher geübt habe. Die Einstellung auf neue Orte und neue Menschen hat mich herausgefordert- ich musste mich neu erkunden, neue Leute kennenlernen, quasi die Welt entdecken. So habe ich auch Orte kennengelernt, die ich vorher noch nicht gekannt habe. Diese Freiheit habe ich sehr genossen- hinfahren wo ich möchte, und niemand muss Bescheid wissen. Mein Vater hat mich auch ein Stück weit damit konfrontiert, dass ich mit 18 auf meinen eigenen Beinen stehen soll, dass ich selber überlegen muss, was die Konsequenzen sind und wie ich handeln möchte. Das hat schon dafür gesorgt, dass ich die Welt auch mit vorsichtigen Schritten erkundigt habe. Dann hatte ich auch einen guten Freund, mit dem ich mich austauschen konnte und mir Tipps holen konnte.

Ich habe mich versucht auf jeden meiner Schritte mental vorzubereiten- ich überlege: wo stehe ich ? Was erwartet mich? Was im besten Fall? Was im weniger guten Fall? Zudem denke ich, dass mit jedem Tag eine neue Startmöglichkeit beginnt und man einfach nie die Hoffnung verlieren soll- das ist quasi mein Lieblingssport «never give up». Jeder Tag den man lebt, darf man neue Erfahrungen sammeln und versuchen das Beste daraus zu machen. Dabei versuche ich, dass ich mir die Zeit nehme, um darüber nachzudenken, aber auch zu schauen, dass diese Gedanken nicht permanent Überhand nehmen oder dass ich zu streng mit mir bin- dazu gehört auch die Erkenntnis, dass ich so nicht zu mir sein muss.

Ich habe quasi gelernt, ohne jemanden aus dem Heim im Alltag zu leben- Freiheiten, die völlig neu für mich waren, die ich so noch nicht kannte und natürlich auch neue Pflichten die dazukommen. Ich bin zufrieden mit dem Weg, den ich gegangen bin- wenn mir etwas fehlt, dann fordert mich das heraus zu überlegen, wie ich es noch anders machen könnte.

Als Heimkind wirst du von der Gesellschaft kritisch angeschaut- was hast du gemacht? Wer ist schuld, dass du im Heim bist? Es prägte mich stark, dass man so oder so ein die gleiche Schublade kommt und es fast immer eine Erklärung benötigt, damit die anderen

Menschen verstehen, dass ich nicht «zu den Schlimmen» gehöre- denn das ist, das was sich die Leute vorstellen. Das erfordert auch einen langen Atem, immer wieder für die eigenen Bedürfnisse einzustehen. Vielleicht erklärt ein einfaches aber für mich prägendes Beispiel was ich meine: Mit 16 Jahren habe ich entschieden meine Medikamente abzusetzen- erst da merkte ich, was die Medikamente mit mir gemacht haben und ich machte die Erfahrung, dass ich meine schulischen Leistungen trotzdem halten konnte und es mir besser ohne ging.

In der Lehrzeit musste ich erneut dafür einstehen keine Medikamente zu nehmen- das war nur so möglich, in dem ich der Medikamenten Einnahme zugestimmt habe und sie dann aber nicht genommen habe. Am Auswertungsgespräch habe ich dann die vollen Packungen auf den Tisch gelegt nachdem mir die positiven Rückmeldungen der Beteiligten gesagt wurden, die ja davon ausgingen, dass ich nun Medis nehme und darum alles besser sei- das macht mich schon ziemlich nachdenklich.

Ich habe mein Weg gemacht und werde meinen Weg weitergehen- wenn ein Weg nicht klappt, dann suche ich einen andere Abzweigung- das Leben ist halt keine gerade Strecke, zickzack, quer durchs Feld alles gehört dazu.

Für mich hat es sich gelohnt und mutig zu sein die Hilfe von anderen Menschen in Anspruch zu nehmen, als es mir nicht gut ging. Ich habe den Mut gefasst meine Bedürfnisse klar zu äussern und bin dafür belohnt worden, dass ich dann das bekam, was ich auch als hilfreich erachtet habe. Glaube an dich selber und Hilfe ist da, wenn man sie anfordert- wenn wer nicht an sich selber glaubt, hat bereits verloren.

31.03.2023